Institut für deutsche Literatur

Nemesis. Eine Poetologie des Maßes

 


 

Fragen des Maßes und des Messens sind seit jeher zentral für die Literatur und das Wissen über sie: das betrifft die Lehren der Dichtkunst ebenso wie die Messkünste literarischer Texte, die Manuale der Formanalyse wie die Versuche, in Formgebung und ‑behandlung die konstitutive Leistung der Literatur festzumachen. Ästhetische Praktiken und deren Wahrnehmung kommen ohne Techniken des Maßnehmens nicht aus – und sei es im Versuch einer Verwerfungsgeste –, und so kann auch der Begriff des Maßes zweifellos als ästhetischer Grundbegriff gelten. Untersuchungen zu Metrum und Metrik bilden zwar einen den Philologien ureigenen Bereich der Maßforschung; indes ist die Kategorie des Maßes selbst dort bisher kaum in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.

 

Das Projekt setzt seinen historischen Fokus auf die ›Sattelzeit‹ um 1800, in der technisches Wissen und Standardisierungen von Maßen und Messprozeduren mit einer Neuverhandlung antiker, kosmologischer Maßentwürfe zusammentreffen und in der ästhetischen Theorie amalgamiert werden. Ein spezifischer Ort dieser Zusammenführung ist der durch Herder mit großer Reichweite wieder eingeführte Begriff der Nemesis. Grundlegender Bezugspunkt der Tragödientheorien und zumeist nur unscharf als ›Vergeltung‹ ausbuchstabiert, ist seine semantische Referenz genauer zu fassen: Nemesis ist die griechische Göttin des Maßes. Knapp drei Jahrhunderte nach ihrer Wiederentdeckung in der Frührenaissance wird die griechische Göttin im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer zentralen ästhetischen Reflexionsfigur in Literatur, Ästhetik, Tragödientheorie und Geschichtsphilosophie. Es ist die Erschließung dieser Figur, über die das Projekt versucht, die literaturwissenschaftliche Kategorie des Maßes neu – und das meint hier vor allem: in ihrer Verschränkung verschiedenster Messkünste – lesbar werden zu lassen.

 

2016/17: Projektförderung in der Förderlinie »Freiräume« im Rahmen des Zukunftskonzepts der Humboldt-Universität