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Projekt »Die Mosse-Frauen. Szenarien deutsch-jüdischer Lebensgeschichten zwischen Kompensation, Profession und Emanzipation«

(english version see below)

Entlang von Szenarien, in denen sich persönliche und soziale Erfahrungen verdichten, werden die Lebensgeschichten von vier Frauen aus drei Generationen der großbürgerlich-jüdischen Mosse-Familie recherchiert. Aus dem umfangreichen biographischen Material sind symptomatische momenti von lebensgeschichtlicher Bedeutung auszuwählen, die Aufschluss geben über die persönlichen Erlebnisse und Ereignisse im familiären, beruflichen und institutionellen Zusammenhang:  ausgerichtet, auf Naht- und Bruchstellen des Lebenswegs, die Auskunft geben über das Verhalten, Denken und die vielfach nachzuweisenden Tätigkeiten dieser jüdischen Frauen im Bestreben um soziale Anerkennung, kulturelle Geltung und beruflichen Erfolg in der Mehrheitsgesellschaft von Kaiserreich, Weimarer Republik, Faschismus, Exil und Nachkriegszeit. Zu erkunden ist – in ideeller, habitueller und auch rhetorischer Hinsicht – die „Umgebung einer Handlungsweise“ (Wittgenstein) der jüdischen Akkulturation.

 

Emilie Mosse (1851-1924) war die Tochter des Kaufmanns Benjamin Löwenstein aus Trier. Sie heiratete 1874 Rudolf Mosse, den Gründer und Besitzer des aufstrebenden Berliner Verlagshauses. Im Rahmen von dessen Mäzenatentätigkeit leitete sie den Verein „Berliner Mädchenhort“ und übernahm 1885 die Schirmherrschaft des neu eröffneten Mosse-Stifts, einer Erziehungsanstalt für Knaben und Mädchen aller Konfessionen in Berlin Schmargendorf. 1909 war sie die erste jüdische Frau, der für ihr philanthropisches Engagement der königliche Wilhelm Orden verliehen wurde. Unter ihrer Regie wurden das Mosse-Palais am Leipziger Platz und der Herrensitz in Schenkendorf zu Orten kultivierter Geselligkeit. Zudem war sie Lektorin und hoch geschätzte Mittlerin zwischen Autoren, Frauenrechtlerinnen und der Feuilleton-Redaktion des „Berliner Tageblatt“, dem Flaggschiff des Mosse-Pressekonzerns.

 

Hilde Lachmann-Mosse (1912-1982) ging hervor aus der Ehe Felicia Mosses, Adoptivtochter von  Emilie und Rudolf Mosse,  mit Hans Lachmann-Mosse. Sie musste als Jüdin ihr in Bonn begonnenes Medizinstudium abbrechen als die Nazis an die Macht kamen, wechselte in die Schweiz, promovierte in Basel und ging von dort 1938 ins New Yorker Exil. In der schwarzen Community Harlems arbeitete sie als sozial engagierte Kinderärztin und Psychiaterin, war Mitbegründerin der Lafargue Cllinik, die schwarzen Jugendlichen erstmals psychologische Betreuung bot, und gelangte mit ihrem antirassistischen Engagement und ihren zahlreichen Publikationen in den USA zu öffentlichem Ansehen. Als Fulbright-Gastprofessorin kehrte sie 1964/65 vorübergehend nach Deutschland zurück.

 

Hilde Mosse mit Afro-Amerikanischen Studentinnen (Leo Baeck Institut, Mosse Collection)

Hilde Mosse mit Afro-Amerikanischen Studentinnen (Leo Baeck Institut, Mosse Collection)

 

Martha Mosse (1884-1977) war die Tochter des preußischen Oberlandesgerichtsrats Albert Mosse und seiner Ehefrau Lina, geborene Meyer.1920 promovierte sie an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. Sie wurde als erste Frau zum preußischen Polizeirat ernannt. Nach ihrer 1933 gemäß dem Berufsbeamtengesetz der Nazis erfolgten Entfernung aus dem Dienst war sie in Berlin für jüdische Organisationen tätig, musste in Wohn- und Siedlungsfragen auch mit der Gestapo zusammenarbeiten, überlebte Theresienstadt und stellte sich in der Nachkriegszeit wegen einiger Verleumdungen einem Ehrengerichtsverfahren der Jüdischen Gemeinde. Sie ist die Einzige aus der Mosse-Familie deren Lebensweg, an der Seite ihrer Lebensgefährtin Erna Stock, nicht ins Exil führte.

 

Dora Panofsky-Mosse (1885-1965), Marthas Schwester, studierte Archäologie und Kunstgeschichte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität und lernte dort ihren späteren Ehemann, den Kunsthistoriker Erwin Panofsky, kennen. Nach dem Umzug nach Hamburg bewegte sie sich fachkompetent in den Kreisen der Warburg-Bibliothek und der Hamburger Universität. Mit Panofsky, der schon vor 1933 an der New York University tätig war und 1935 als Professor für Kunstgeschichte an das Institute for Advanced Study in Princeton berufen wurde, ging sie ins amerikanische Exil. Ohne offiziellen Status war sie im zu jener Zeit eher frauenfeindlichen und zum Teil antisemitischen Princeton Wegbegleiterin und Mitarbeiterin ihres renommierten Gatten. Erst mit 58 Jahren legte sie eigene Publikationen vor und erfuhr durch diese und die mit Panofsky in den 1950er Jahren als Ertrag gemeinsamen Forschens ausgewiesenen Beiträge Anerkennung.

 

Dora Mosse-Panofsky Warburg-Haus Hamburg Heckscher Archiv

Dora Mosse-Panofsky
Warburg-Haus Hamburg
Heckscher Archiv

 

Im Rekurs auf die Genderforschung zur Biographik und die literaturwissenschaftliche Reflexion zum biographischen Schreiben, das sich ablöst von der „biographischen Illusion“ einer Identität stiftenden und kohärenten Lebensgeschichte (Bourdieu), soll  das in Alltag und Beruf auf sehr unterschiedliche Weise selbsttätige Leben der vier Protagonistinnen  von Fall zu Fall erschlossen und exemplarisch dargestellt werden: aus Selbst- und Fremdzeugnissen, aus eigenen Verlautbarungen und Publikationen, aus den Umständen des häuslichen ‚Inventars‘, aus Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen, institutionellen Nachweisen, Pressemitteilungen, insbesondere auch aus dem überlieferten privaten und öffentlichen Bildmaterial.

 

Methodisch, als modus operandi der avisierten Biographik der Mosse-Frauen, waren bei der bisherigen Erstellung von Recherche-Rastern und ersten Interpretationen von Erlebniszusammenhang und sozialer Interaktion die Habitus-Forschungen von Pierre Bourdieu besonders hilfreich. Attraktiv für die Biographik wird das Habitus-Konzept durch die Eigendynamik subjektiver Produktivität, die im Verhältnis zur Steuerung im „sozialen Feld“ stets zu profilieren ist. Im eingelebten Habitus einer Person werden Herkunft und Tradition aktiviert: die im gegenwärtigen Handeln zumeist unbewusst wirksamen überkommenen Sitten, Gewohnheiten und (religiösen) Rituale. So lässt sich beispielsweise Aufschluss gewinnen über die im lebensgeschichtlichen Zusammenhang der Mosse-Frauen potentiell nachwirkende „verborgene Tradition“ des jüdischen Paria-Seins (Hannah Arendt): ein möglicher Begründungszusammenhang für deren Motivation und ihr unbedingtes Streben nach Anerkennung im sich historisch verändernden Tätigkeitsbereich von Philanthropie, Erziehung, Bildung und beruflicher Qualifikation.

 

 

Das Forschungsprojekt wird gefördert von der

Fritz Thyssen Stiftung

unterstützt von der Mosse Foundation und dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität. Es hat seit Jahren von den Programmen der Berliner Mosse-Lectures profitiert, die 1997 von George L. Mosse und Klaus R. Scherpe begründet wurden.

 

VERANTWORTLICH
Dr. Elisabeth Wagner
In Zusammenarbeit mit
Prof. Dr. Ulrike Vedder  
Institut für deutsche Literatur
Humboldt-Universität zu Berlin
Unter den Linden 6
10099 Berlin

fon. 0049 30 2093 9712
fax. 0049 30 2093 9653
e-mail  elisabeth.wagner@hu-berlin.de

 

 

The Mosse-women: Key patterns in four German-Jewish lives in search of recognition,

professional achievement and personal emancipation

 

This research explores paradigmatic patterns in the life stories of four women in three generations of the bourgeois Jewish Mosse family. Selected from extensive archival materials, the project is focused on the seams and breaking points of these lives, momenti of biographical importance. They give evidence of personal experiences and events in the context of family, profession and institutions, exhibiting the attitudes, thinking, and the various activities of these Jewish women: their striving for social recognition, cultural valorization, and professional success, notable features of Jewish acculturation within the majority society of imperial Germany and the Weimar Republic, as well as in the Third Reich, American exile and in the post war period. The intention is to explore and incorporate “die Umgebung einer Handlungsweise” (the set conditions of acting and behaving, Wittgenstein) in its ideal, habitual, and rhetorical dimensions.

 

Emilie Mosse (1851-1924) was the daughter of the merchant Benjamin Löwenstein in Aachen. In 1874, she married Rudolf Mosse, the founder and owner of the rising publishing house in Berlin. Together with the writer and journalist Anna Plothow she founded and managed the association “Berliner Mädchenhort” – a daycare center with soon 20 branches. Beginning in 1885, she acted as patron of the newly established Mosse-Stift, devoted to the education of boys and girls from all religious denominations. In 1909, she became the first Jewish woman to be honored with the royal medal, the Wilhelm Orden, in recognition of her philanthropic commitment. Under her guidance, the Mosse-Mansion at Leipziger Platz in Berlin and the Manor House in nearby Schenkendorf became well known sites of cultivated conviviality. In addition, she was an esteemed reader and mediator between writers, women’s rights activists, and the editorial staff of the Berliner Tageblatt, flagship of the Mosse press group.

 

Martha Mosse (1884-1977) was the daughter of Lina Mosse, born Meyer, and Albert Mosse, a Prussian higher regional court councilor. In 1920, she earned her doctoral degree from the Law Faculty of Heidelberg University and became the first woman to occupy the position of a Prussian police officer. She was dismissed from service according to the Nazis’ Professional Civil Service Act in 1933 and thereafter worked for Jewish organizations. Being responsible for housing and settlement she was forced to cooperate with the Gestapo. Having survived the concentration camp of Theresienstadt, she faced court of honor proceedings of the Jewish Community after having been slandered. She is the only member of the Mosse family to have remained in Nazi-Germany with her lifelong partner Erna Stock. After her retirement she was engaged in the activities of the Berliner Frauenbund.

 

Dora Panofsky-Mosse (1885-1965), Martha’s sister, studied archeology and art history at Berlin’s Friedrich-Wilhelms-Universität, where she met her future husband, the art historian Erwin Panofsky. After moving to Hamburg, she was a respected affiliate of the Warburg-Library and the University. She went into exile together with Panofsky, who had been a visiting professor at New York University even before 1933, and in 1935 became a member of the Institute of Advanced Study in Princeton. Without any official status in Princeton, known for its misogynist and antisemitic tendencies at that time, she worked worked on the model of Aby Warburgs Pathosformulae and was a loyal companion and collaborator in the research of her distinguished husband. Only at the age of 58 did she publish work of her own, which earned recognition, together with art-historical contributions co-authored in the 1950s with her husband as a result of joint research.

 

Hilde Lachmann-Mosse (1912-1982) was the granddaughter of Emilie and Rudolf Mosse, born as the first child of their adoptive daughter Felicia Mosse and Hans Lachmann, who added the name Mosse. As a Jew, she was forced to give up her medical studies in Bonn when the Nazis came to power. She moved to Switzerland, where she received her doctor’s degree in Basel, and from there went into exile in New York. In the black community of Harlem, she worked as a socially engaged pediatrician and psychiatrist. She was the co-founder of the Lafargue Clinic, where, for the first time, psychological treatment was offered to black youngsters. Her anti-racist activities and numerous publications gained her public visibility and reputation as a scholar and activist of civil rights. She returned temporarily to Germany in 1964/65 as a Fulbright scholar. There she was confronted with the Nazi background of her German colleagues in the field of children’s psychiatry and left German finally.

 

 

Recent gender studies and literary criticism, significant for this project, suggest that biographical writing should dissolve the “biographical illusion” (Bourdieu) of a coherent life story, a fabric of personal identity. Instead the vita activa of these four protagonists in everyday and professional life is being explored, following, case by case, the traces of personal and extraneous testimonies, their own reports and publications, including the meaningful reservoir of domestic life, correspondences, institutional documents and press releases; private and public photo material has also proved to be highly informative and suggestive.

 

In setting up research patterns and tentative interpretations regarding the correlation of personal experience and social interaction, Pierre Bourdieu’s concept of “habitus”, as a modus operandi, has been especially helpful. It is attractive for biographical writing in that it observes the dynamics of individual productivity while navigating the “social field”. In the familial “habitus” the origin and tradition of a person are activated: mostly unconscious, traditional customs, habits and (religious) rituals become effective. This approach opens the possibility to gain insight into the Mosse women’s life trajectory and to understand the “hidden tradition” of the Jewish Pariah (Hannah Arendt), which might have energized their motivation and striving for recognition in the fields of philanthropy, education, “Bildung” and professional qualifications in challenging times.

 

This research project was funded by the Fritz Thyssen Stiftung, supported by the Mosse-Foundation and the German Department of Humboldt-University. It has benefited for years from the program of the Berlin Mosse-Lectures, established in 1997 by George L. Mosse and Klaus R. Scherpe

 

Responsible

Dr. Elisabeth Wagner.

In cooperation with

Prof. Dr. Ulrike Vedder

Institut für deutsche Literatur

Humboldt-Universität

Unter den Linden 6

D-10099 Berlin

fon.       0049 30 2093 9712

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e-mail. elisabeth.wagner@hu-berlin.de