Geschichte der Arbeitsstelle
Der alte Schreibtisch im Christa Wolf-Raum (Foto: Jiasheng Yang)
Christa und Gerhard Wolf |
Gerhard Wolf und wir
- Ein Nachruf -
Gerhard Wolf und die Studierenden der deutschen Literatur - das ist eine Geschichte beglückender und inspirierender Begegnungen. Sie begann mit seinem Besuch bei uns an der Humboldt Universität im Juni 2015. Die gerade erst gegründete studentische Arbeitsgruppe „Christa Wolf andernorts“ hatte den Essayisten und Herausgeber eingeladen, von der Gründung seines Verlags Januspress zu erzählen. Noch gab es keinen eigenen Ort, wir trafen uns im Heiner Müller Transitraum. Der vor Geschichten nur so sprudelnde Gast mit einem unfassbaren Detailgedächtnis und seiner verschmitzten Konzentration steckte uns alle an: Gerhard Wolf war selbst sozusagen lebendige Literaturgeschichte! So aufregend konkret konnte literarisches Leben sein? So viel Leben steckte in und hinter den Büchern, die allesamt als Geschenk zu uns kommen sollten?

Die Studentinnen und Studenten wurden geradewegs mitgerissen von diesem Philologen alter Schule. Wie gut, dass der Kameramann Ralf Klingelhöfer diesen langen Nachmittag dokumentiert hat. Auch mehrere meiner Befragungen Wolfs zu Schwerpunkten, Anordnung, Herkunft der Privatbibliothek sind filmisch festgehalten. Wir kommen von einem Autor zum nächsten, er zitiert Titel und ganze Verse aus dem Stand. Mehrfach fordert Gerhard Wolf mich auf, ein bestimmtes Buch von ganz oben in einem der Regale herauszusuchen. Obwohl der fast Neunzigjährige schon seit längerem nicht mehr auf die Leiter steigen kann, weiß er genau, wo was zu suchen ist. Und wenn nicht, lässt er nicht locker: Die Ausgabe muss doch hier sein oder vielleicht steht der Band doch da drüben?
Es sind seit 2015 schon mehrere Studienjahrgänge, die das Glück hatten, Gerhard Wolf auch persönlich kennenzulernen: Auf einer Reise an den heute polnischen Geburtsort Christa Wolfs Gorzow Wielkopolski oder auf der festlichen Eröffnung der von Studierenden erarbeiteten Christa Wolf-Ausstellung im Literaturhaus Fasanenstraße. Im Interview zum Gegenstand einer studentischen Abschlussarbeit oder den wertvollen Bücher-Bestand in der so besonderen Pankower Wohnung voller Bilder und Bücher verzeichnend. Ein kollabiertes Bücherregal in seinem Arbeitszimmer wieder einräumend oder ein Thema zur Ausstellung entwickelnd. Oder auch im Arbeitszimmer Christa Wolfs das Programm vorstellend, das besonders engagierte Studentinnen auf der Grundlage der Briefauswahl Christa Wolfs und des „Tagesbuchs“ Ein Tag im Jahr erarbeitet hatten. Von der Musik-Text-Collage berichtend, die eine studentische Gruppe auf der Basis seines letzten großen Essays „Herzenssache“ über die Freundschaft zu Franci Faktorová konzipierte und auf einer wissenschaftlichen Tagung präsentieren durfte.
Gerhard Wolf verwickelte die jungen Besucher:innen ins Gespräch über Literatur, kommentierte den Lyrikband, den man gerade wieder ins Regal einräumte und die Zeitschrift, die er einem aus dem überfüllten Regalfach herauskramte. Dabei hätte man sich am liebsten erst einmal nur staunend umgesehen: Was da Aufregendes an Wänden hing, kreuz und quer in Regale gestopft war und auf diversen Abstelltischen herumlag!
Die Bücherkisten, die diverse Helfer:innen zum Umzug aus dem Woseriner Sommerhaus und dem Pankower Souterrain an die HU schleppten, wurden zum Ausgangspunkt überraschender Entdeckungen. Diese gesammelten Büchergeschenke prominenter Persönlichkeiten! Diese einschüchternden Schätze an sehr persönlichen Widmungen! Diese rätselhaften Randbemerkungen und unerwarteten Buch-Einlagen!

Stets agierte Gerhard Wolf auch als warmherziger Gastgeber. Der kleine Wintergarten (nicht mal das ein Ort ohne Bücher), sein Arbeitszimmer mit der großformatigen transparenten Grafik von Carlfriedrich Claus, dem Grafikschrank und dem Schreibtisch mit einer in die Jahre gekommenen elektronischen Schreibmaschine, das helle Arbeitszimmer Christa Wolfs mit Fotos und Andenken in den doppelreihig belegten Bücherregalen - alle diese Räume wurden zu Ideenschmieden in Sachen Literatur. „Man müsste mal sehen, ob …“, „das müsste man sich mal genauer angucken“. Und immer wieder Zustimmung, großzügige Unterstützung und Ermutigung: „Na klar: macht mal!“. Zum Büchergespräch gab es Kuchen und Kaffee und nicht selten bekam die tagelang Buchtitel verzeichnende Praktikantin auch noch eine von ihm gekochte Suppe vorgesetzt.
Wie üblich fragte Gerhard Wolf mich auch bei meinem letzten Besuch kurz vor Weihnachten 2022 aus: Was macht ihr gerade, was habt ihr vor? Ich erzählte von den jungen Leuten, die ihr Studium inzwischen abgeschlossen hatten und an deren beeindruckender Entwicklung er ganz persönlich Anteil hatte. Ich berichtete von noch unabgeschlossenen alten und von neuen Projekten, vom Fortschritt einzelner Bachelor- und Masterarbeiten, von einem neuen Aufsatz und vom erstmals vergebenen Christa und Gerhard Wolf-Förderpreis. Eigentlich aber wunderte ich mich jede Minute unseres Gesprächs über den so jungen und wachen Geist meines vierundneunzigjährigen Gegenübers, über diesen unfassbaren Literatur-Enthusiasmus, über die Ideen, die er in mir auslöste, die ansteckende Energie und Freundschaftlichkeit. Seine Art, in der Welt zu sein, wird mich begleiten. Eine „Herzenssache“ eben.
Und so hatte ich Gerhard Wolf im Juni 2015 vorgestellt:
GW ist ein Philologe alter Schule: Literaturkenner, Literatur- und vor allem Autorenförderer über Jahrzehnte, Redakteur, Lektor, Essayist, Drehbuchautor, Literaturhistoriker, Mentor und Herausgeber. Seine Aufsätze der 1980er Jahre in den Reclambänden von 1988 und 1992 enthalten Spuren für ganze Seminare auf seinen Pfaden: Wolf erklärte 1986 als einer der ersten innerhalb der DDR die weitgehend ungedruckte experimentelle Lyrik von Papenfuß, Döring, Faktor, Koziol und Kolbe in einem ausführlichen Vortrag. Er zitierte die damals offiziell ungedruckten Texte betont ausgiebig – und sein Reclambändchen Wortlaut Wortbruch Wortlust von 1988 war sofort vergriffen. Dieser Band zeigt GW tatsächlich „im Dialog mit Dichtung“, wie sein Untertitel verheißt, es ist eine wunderbare Methodenschule für literaturhistorische Quellenkunde und für den feinsinnigen und pointiert urteilenden Umgang mit Lyrik.
Lesen Sie seinen Aufsatz von 1981 „Brecht liest Bachmann“! Wie er darin sowohl Brechts als auch Bachmanns Poetik gerecht wird! Wie er Brechts respektlosen Umgang mit den Gedichten der jüngeren Kollegin (dem Band Die gestundete Zeit von 1953) auf die Schippe nimmt und zugleich anhand der Brechtschen Streichungen dessen poetische Perspektive darauf erklärt: „Man kann es sich nur schwer versagen, nicht polemisch zu reagieren, wenn man ansehen muss, wie hier ein Dichter mit einer Dichterin verfährt. Aber die Literaturgeschichte bietet zahlreiche ominöse Beispiele dafür, wie schwierig es ist, dass ein Gestirn das Leuchten eines anderen wirklich wahrzunehmen vermag und es als Licht erkennt. Man lese Schillers Korrektur zu Hölderlins Gedicht ‚An die klugen Rathgeber’, und man weiß genug. Brecht sah sich nach seinem Selbstverständnis in der Rolle eines solchen Ratgebers, in der ihm angetragenen und längst respektierten Mission des Lehrers, der allein weiß, wie ein Gedicht zu sein hat. Da war der Rotstift gleich bei der Hand. [...] Brechts extrahierende, apodiktische Redaktion schärft unser Empfinden und Bewusstsein für das Parlando der frühen Poesie von Ingeborg Bachmann, für die Schönheiten und Übersteigerungen ihres metaphorischen Sprechens, ihrer Emotionen, ihrer Sinnlichkeit, die sich in ihren ‚ausschweifenden’ Versfolgen offenbart [...].“
Das ist die Dialektik des Literaturhistorikers Gerhard Wolf. Eine Vorliebe für die Unangepassten und Kantigen unter den Dichtern scheint sich durch sechs Jahrzehnte Literaturengagement zu ziehen: Wolf schrieb über Fürnberg, Bobrowski, Hölderlin, Kleist und die Romantiker, über Arendt, Maurer, Sarah Kirsch und Morgner. Die von ihm herausgegebenen Anthologien schrieben die Geschichte der Lyrik der DDR entscheidend mit, das gilt für die erste von 1959 Sagen wird man über unsre Tage ebenso wie für die Erich-Arendt-Gesamtausgabe ab 1995. Wolf entdeckte uns zusammen mit de Bruyn in den 1980er Jahren den Märkischen Dichtergarten wie er in den sechziger Jahren zu den frühen Förderern einer Elke Erb, eines Karl Mickel, Volker Braun oder Adolf Endler gehört hatte. Wie wurde Gerhard Wolf zur „Instanz“ für Dichter:innen?
1928 in Bad Frankenhausen geboren, wurde er 1944-45 noch als Flakhelfer eingesetzt. Die Abiturprüfung konnte er erst nach der Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft ablegen. Unmittelbar darauf arbeitete er ab 1947 als „Oberschulhelfer“ und begann 1949 in Jena Germanistik und Geschichte zu studieren. Nun kommt Christa Wolf ins Spiel: Nach der Heirat 1951 und der Geburt der ersten Tochter entschied das studierende Paar, einer von beiden müsse nun erst einmal den Unterhalt für die Familie verdienen. So wurde er Rundfunkredakteur in Leipzig und Berlin. Mitte der 1950er Jahre beendete er dann das unterbrochene Studium an der HU. Er arbeitete als Lektor im Mitteldeutschen Verlag, später im Aufbauverlag, wo er die außergewöhnliche Reihe „Außer der Reihe“ durchkämpfte. Die ging aber 1988/89 in den Wirren der historischen Ereignisse weitgehend unter und 1990 wurde der Zweiundsechzigjährige zum „Jungverleger“: über seinen kleinen feinen Verlag JanusPress wird er heute auch sprechen. Zumindest erwähnt sei zum Schluss, dass ihm sein aufrechter Gang nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 einen Parteiausschluss bescherte. Seine große Belesenheit, die er nie herausstellt, sein verlegerischer Mut zum Experiment, seine sichere Hand für poetische (und bildkünstlerische!) Qualität, die unendliche Dialogbereitschaft - das alles sind Charakterzüge, die Gerhard Wolf zu einer Autorität unter Intellektuellen gemacht haben. "Du bist nun mal unentbehrlich für jede ernstere Arbeit", schrieb Volker Braun seinem Kritiker 1971.
Birgit Dahlke, 8. Februar 2023
Für Gerhard Wolf (1928 - 2023)
Neuere, im Umfeld der Arbeitsstelle entstandene Publikationen Birgit Dahlkes zum Werk der Wolfs:
- Max Frisch und Christa Wolf. Konstellationen zwischen 1972 und 1990. In: Max Frisch. Korrespondenzen. Hg. von Tobias Amslinger, Regine Battiston. Göttingen, Wallstein 2025 (im Druck). [Mit Beschreibung von Standorten verschiedener Max Frisch-Ausgaben sowie Lesespuren und Widmungen darin]
- Zur Literaturgeschichte einer „Lebensfreundschaft“. Christa und Gerhard Wolf und Franci Fakterova. In: Das Phänomen ‚Freundschaft‘ in Literatur und Kultur. Hg. von Carsten Gansel, Anna Kaufmann. Berlin, de Gruyter 2025.
- Moskau und ‚Moskau‘. Umbau des Ost-West-Paradigmas in den Reiseprotokollen Christa Wolfs. In: Transformationen und Transfers. Literarische Raumordnungen und ihre Dynamisierung. Hg. von Ulrike Vedder, Annegret Pelz, Grażyna Kwiecińska. Köln, Böhlau Verlag 2025. [https://www.vr-elibrary.de/doi/abs/10.7788/9783412515324]
- Brachland Berlin 1990. Als Christa Wolf statt am Schreibtisch an runden Tischen saß. In: Feministische Visionen und Perspektiven vor und nach 1989. Geschlecht, Medien und Aktivismen in der DDR, BRD und im östlichen Europa. Hrsg. von Karin Aleksander, Ulrike Auga, Elisaveta Dvorak, Kathleen Heft, Gabriele Jähnert, Heike Schimkat. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2022, S. 67-81
- Christa Wolf. Antifaschistin - Humanistin - Sozialistin. Reihe Humanistische Porträts. Hg. von Hubert Cancik, Richard Faber, Ralf Schöppner. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019
- Protocol of thinking barriers? Wolf’s Moscow. Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren (2014). In: Christa Wolf: A Companion. Edited by Sonja E. Klocke, Jennifer R. Hosek. De Gruyter Series: Companions to Contemporary German Culture 2018, S. 201-217
- Schreiben wider das Vergessen. Kindheitsmuster (1976), exemplarisch. In: Christa Wolf-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Carola Hilmes, Ilse Nagelschmidt. Metzler: Stuttgart, Weimar 2016, S. 123-142
Geschichte der ArbeitsstellePrivatbibliothekChrista und Gerhard Wolf
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Am 3. September 2015 erfolgte die Schenkung der Privatbibliothek von Christa und Gerhard Wolf an die Humboldt-Universität. Wie im Falle der am Institut bereits seit 2000 verankerten und als Heiner Müller Archiv/ Transitraum philologisch-editorisch genutzten Privatbibliothek Heiner Müllers handelt es sich bei der insgesamt ca. 330 Regalmeter Bücher, Bildbände, Lexika und Zeitschriften umfassenden Arbeitsbibliothek der Wolfs um eine autobiographisch und zeithistorisch bedeutende Sammlung.
Unterzeichnung der Schenkungsurkunde am 3. September 2015. Auf dem Bild zu sehen sind Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz (Präsident der HU), Dr. Therese Hörnigk (Vorsitzende der CWG), Annette Simon, Gerhard Wolf, Katrin Wolf, PD Dr. Birgit Dahlke, Prof. Dr. Frank Hörnigk.
In mehreren Schritten fand der ca. 9000 Bücher umfassende Hauptbestand der Sammlung in drei Räumen der Arbeitsstelle am Institut für deutsche Literatur einen neuen Ort. Ab Dezember 2016 wurden kontinuierlich Bücherkisten aus dem Woseriner Sommerhaus und dem Pankower Souterrain in die HU transportiert. Unterstützt wurden wir dabei von Martin Hoffmann, Ralf Klingelhöfer, Sonja Leinkauf und Dr. Klawuhn. Abgrenzbare Teilbestände aus Christa Wolfs Woseriner Arbeitsbibliothek, ihre Vorleseexemplare, mehrere hundert Lizenzausgaben und die mehr als 900 Bände umfassende sogenannte "Wende-Sammlung" aus dem Souterrain am Amalienpark wurden allein bis 2020 verzeichnet und der Nutzung zugänglich gemacht. Ein Regal enthält Belegexemplare und Kataloge des von Gerhard Wolf 1990 gegründeten bibliophilen Kleinverlags janus press.
Einzug der Bücher
- Fotogalerie -
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Einzug: Im Mai 2023 zog der Hauptbestand zu uns: 6000 Bücher aus der Wohnung am Pankower Amalienpark, mit denen Gerhard Wolf bis zu seinem Tod im Februar des Jahres gelebt hatte. Sie wurden in Original-Regalen der Wolfs und unter Sicherung der ursprünglichen Aufstellungsordnung untergebracht.
Voraussetzung für die Sicherung war einerseits die Fotodokumentation der Regale und andererseits eine detaillierte Verzeichnung jedes Buchs. Außer dem Fotografen und Kameramann Ralf Klingelhöfer hatte ich dazu die Vermessungsfirma Plan 3D um professionelle Unterstützung gebeten. Die durch Eduardo Palud erstellte 360-Grad-Dokumentation (farbig texturierte 3D-Meshs samt Orthofotos) beider Arbeitszimmer ist Teil unseres Archivs.
Im März 2023 waren Studierende und Alumni sowie Literaturwissenschaftler:innen des Instituts für deutsche Literatur an acht Tagen auf drei Meter hohe Leitern geklettert und hatten die 6000 Bände nach einem von Dr. Karin Aleksander konzipierten System mit Signaturen versehen.
Außer Dr. Karin und Aleksander Aleksander, Dr. Thomas Möbius, PD Dr. Ralf Klausnitzer und Wolfgang Hagemann waren folgende Studierende bzw. Alumni daran beteiligt: Kristin Seifert, Emma Ulrich, Marielena Rasch, Leonie Bartels, Ricarda Janczikowski, Yevgen Oks, Felix Latendorf, Helena Schubert, Sophie Neumann, Salome Zacher, Alina Mohaupt, Louisa Meier und Sophie Schön.
Verzeichnen im Arbeitszimmer Wolfs am Amalienpark 2023
- Fotogalerie -
Akribie und Arbeitstempo trugen uns die Anerkennung der Familie Wolf wie auch der für den Wolf-Nachlass in der Akademie der Künste zuständigen Archivarin Sabine Wolf ein. Dank der enthusiastischen Teamarbeit ist dokumentiert, wo ein Buch ursprünglich stand, selbst wenn die Differenz zwischen 3,50 Metern Raumhöhe am Pankower Amalienpark und 2,70 Metern in der Arbeitsstelle uns zwang, die bis an die Zimmerdecke reichenden Regale abzusägen.
Die charismatische Bücherwohnung voller Kunst wurde in diesen Tagen auf eine Weise lebendig, die Gerhard Wolf gefreut hätte. Mit verstaubten Nasen bestaunten wir außer dem unfassbaren Bücherschatz auch die allgegenwärtige Kunst: Eine Aura der kunstsinnigen Geselligkeit, des stetigen Austauschs war zu ahnen. Gerhard Wolf hat auch als Koch und Genussmensch Spuren in der Literatur hinterlassen, man lese nur Volker Brauns Gedicht „Die Austern“, Christa Wolfs Ein Tag im Jahr oder die bibliophile Janus press-Edition Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet ein Essen für sie vor (2003).
Über die Verzeichnung der Bücher vor dem Umzug
-Ein Video von Ralf Klingelhöfer -
Nach und nach wurde jedem bewusst, welch’ intimen Einblick uns das Vertrauen der Familie Wolf ermöglichte - in den hohen Räumen der Altbauwohnung bewegten wir uns in Zeit- und Literaturgeschichte! Nach stundenlangem ehrfurchts-stillem Verzeichnen begann es zu sprudeln: Entdeckungen mussten unbedingt geteilt werden: Das Sinn und Form-Heft 1/1949 mit Notizen Gerhard Wolfs! Eine 1950er Widmung der jungen Christa Ihlenfeld für Gerhard Wolf in Kurt Tucholskys Rheinsberg für Verliebte! Eine mit dem Datum 1951 versehene Widmung von ihm an sie in Liebesgedichten von Stepan Stschipatschow - wer ist das? Welcher Lebensbogen schien auf zwischen Christa Wolfs Widmung von 1957 in Grashalme von Walt Whitman und der zum 80. Geburtstag ihres Mannes in einem Siebeck-Kochbuch! Wie aufschlussreich, dass Gerhard Wolf seine frühesten Lyrikerwerbungen signiert und datiert hat. Welche Lust auf Recherche löst das Rilke-Bändchen aus dem Insel-Verlag mit dem Eintrag „Gerhard Wolf, Bad Frankenhausen, 1947. Abitur“ aus, oder die Walt Whitman-Ausgabe des Suhrkampverlags mit „G. Wolf, Jena 1949“. Widmungen Louis Fürnbergs (1954), Günther Weisenborns (1968), Edgar Hilsenraths (1978), Hilde Domins (1989), Wolf Biermanns (1997, in Spiegelschrift!) fielen uns wortwörtlich „in die Hände“. Wie war die Widmung Paul Eluards an Stephan Hermlin an die Wolfs gekommen? Noch die Kaffeepause in der Küche bekam eine bibliophile Note: ein Prager Kochbuch mit Lesespuren Christa Wolfs!
Im Mai 2023 brauchten dann sechs Männer der auf Büchertransporte spezialisierten Firma Grohmann-Logistik vier Wochentage, um 17 Regale, einen großen Bücherschrank, zwei Schreibtische und unzählige Bücherkisten an die Universität zu bringen.
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Ankunft der ersten Bücherkisten am 3. und 4. Mai 2023 im Institut für deutsche Literatur an der HU (Foto: Birgit Dahlke) |
Vor dem denkmalgeschützten Wohnhaus am Amalienpark war ein Stecklift aufzubauen, der Siebeneinhalbtonner brauchte Parkplatz und Zufahrt am Start- und Zielort, die Regale waren abzubauen und den Gegebenheiten am Institut angepasst neu zu montieren.
Stecklift, am 3. Mai 2023 am Amalienpark (Foto: Birgit Dahlke) |
Abfahrt Tour Nr. 1 am 3. Mai 2023 (Foto: Birgit Dahlke) |

Die Kollegen Möbelträger reagierten erstaunt, als ich ihnen zum Dank eine von der Christa Wolf Gesellschaft produzierte kunstvolle Foto-Text-Broschüre zur Wohnung überreichte. Das Bewegen hunderter Bücherkisten war zwar ‚ihr täglich Brot‘, aber lesen? Unsere Fotos halten fest, wie der junger „Fachpacker“ die Bücher schön auf Kante einsortierte. So hatten sie bei den Wolfs niemals gestanden.
Erst nachdem alles eingeräumt war, wurde die ein oder andere Lücke erkennbar, in die noch ein weiteres Regal passen könnte. Nun standen keine Umzugsprofis mehr zur Verfügung und erneut war Courage und Körperkraft ehrenamtlicher Helfer:innen gefragt, damit im Juni mit dem Kleinbus der Familie Aleksander die restlichen Regale und ein schöner alter Schrank auch noch bei uns landeten.
Dass wir nicht sämtliche Bücher übernehmen konnten, mit welchen Christa und Gerhard Wolf in ihrer letzten Berliner Wohnung lebten, findet seinen Grund in den begrenzten räumlichen Möglichkeiten an einer Universität. Wertvolle (oft gewidmete) Kunst-Bildbände gingen so an das Stadtmuseum Berlin und an die Bibliothek des Bauhauses Dessau, platzkostende Lexika an öffentliche Einrichtungen wie die Kaspar Hauser Stiftung.
Umzugsteam vor der HU am 22.6.2022 (Foto: Thomas Möbius)
Wenn nun mitten in Berlin mit und an den Büchern der Wolfs studiert und geforscht werden kann, haben wir vielen engagierten Menschen zu verdanken:
Zuallererst der Familie Wolf und der Christa Wolf Gesellschaft. Ich danke darüber hinaus meiner Institutsleitung sowie meinen Professor:innen-Kolleg:innen Ulrike Vedder, Steffen Martus und Michael Kämper-van den Boogaart, Dr. Constanze Baum, dem Geschäftsführer des Dekanats der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät Dr. Rainer Fecht, Nico Wittenberg von der Technischen Abteilung des Präsidiums der HU, dem zentralen HU-Sammlungskoordinator Dr. Oliver Zauzig, der Leiterin der Historischen Sammlungen der Universitätsbibliothek Dr. Yong-Mi Rauch und den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Nicht zuletzt: Hätten Therese und Frank Hörnigk den damals amtierenden Präsidenten Prof. Dr. Hendrik Olbertz nicht von der Idee überzeugen können, wäre das alles ein kühner Traum geblieben. Uns zum Glück war der ein Leser Christa Wolfs.
Filmische Dokumentation zur Geschichte der Privatbibliothek
In Zusammenarbeit mit Ralf Klingelhöfer entstand zwischen 2015 und 2021 eine vierteilige filmische Interview-Dokumentation, worin Gespräche mit Gerhard Wolf zu sehen sind. Vor den Regalen seines Arbeitszimmers sowie denjenigen im Arbeitszimmer Christa Wolfs spricht Gerhard Wolf anhand von Beispielen über die Geschichte einzelner Exemplare und Sammlungsschwerpunkte, erklärt Hintergründe von Widmungen und erläutert Anstreichungen und Einlagen in Büchern. Natürlich kommt dabei stetig seine Arbeit als Verleger, Essayist und Lektor zur Sprache. Ausschnitte aus den Filminterviews wurden mehrfach in Seminaren und öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt. Das gesamte Filmmaterial von ca. 20 Stunden befindet sich im Archiv der Arbeitsstelle.