2023 Erste Förderperiode
Erstmals verlieh die Christa Wolf Gesellschaft den Preis am 27. April 2023 an die 1992 geborene Emma Charlott Ulrich für ihre Masterarbeit „Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Louis Fürnbergs ‚Krankengeschichte‘ in den Konstellationen des Exils und der frühen DDR“.
Die Jury überzeugte, wie Ulrich sich mit intensiver Recherche, Archivstudium und Methodenvielfalt ein Verständnis für die prägenden Arbeits- und Lebensbedingungen Fürnbergs erwarb. Sie tritt damit thematisch und methodisch in die Spuren von Gerhard Wolf, der als Essayist und Herausgeber das Werk Fürnbergs einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte.
Die festliche Verleihung erfolgte im Foyer vor der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf, begleitet von einer Lesung der 1988 geborenen Autorin Desirée Opela aus ihrem Roman Das Wetter in uns (2022).
Laudatio auf die erste Preisträgerin
Christa und Gerhard Wolf-Förderpreis 2023
Dr. Anke Jaspers: Laudatio auf Emma Charlott Ulrich
27. April 2023
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleg:innen und Freund:innen Christa und Gerhard Wolfs, liebe Emma,
ich freue mich sehr, Ihnen heute die erste Preisträgerin des Christa und Gerhard Wolf-Förderpreises für studentische Abschlussarbeiten und ihre ausgezeichnete Masterarbeit mit dem Titel Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Louis Fürnbergs „Krankengeschichte“ in den Konstellationen des Exils und der frühen DDR vorstellen zu dürfen. Die Frage, ob sich die Auszeichnung einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer Fragment gebliebenen Erzählung Louis Fürnbergs mit dem und ausgerechnet dem ersten Christa und Gerhard Wolf-Förderpreis rechtfertigen lässt, haben wir als Jury nach einiger Diskussion mit einem klaren „Ja“ beantwortet. Warum?
Emma Charlott Ulrich ist 1992 in Potsdam geboren, steht seit ihrer Kindheit auf verschiedenen Theaterbühnen in Berlin und Umgebung, schreibt und inszeniert inzwischen auch eigene Stücke – mindestens eins pro Jahr, sagt sie. Nach ihrem Abitur arbeitete sie in einem Leipziger Off-Theater und in einem Schuhladen, bevor sie 2013 ihr Studium an der Humboldt-Universität aufnahm, in den Fächern Neuere deutsche Literatur und Gender Studies.
Über Lehrveranstaltungen bei Birgit Dahlke fand sie ihren Weg in die AG Christa Wolf Andernorts, einen studentischen Arbeitskreis unter der Leitung von Birgit Dahlke, der sich kritisch mit den Werken und dem Leben Christa Wolfs auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang entstand die 14 Banner umfassende Wander-Ausstellung NEU CHRISTA WOLF LESEN, an deren Erarbeitung und Präsentation Ulrich maßgebend beteiligt war.
Mit ihren Kommiliton:innen konzipierte und inszenierte sie zudem sehr erfolgreich die Textcollage Und die Literatur mit Texten von Christa und Gerhard Wolf; sie entwickelte und leitet bis heute einen literarischen Spaziergang auf den Spuren der Autorin; und sie hat an der Erarbeitung des Ausstellungsprojekts „Störfall“ im Humboldt Labor der HU im Berliner Humboldt Forum entscheidend mitgewirkt. Auf der Website der Christa Wolf Gesellschaft ist auch – hören Sie doch einmal hinein – das von ihr mit zwei weiteren Studierenden entwickelte Hörstück Buchgeflüster über Buchnachbarschaften in der Wolf-Bibliothek zu hören.
Ulrich hat die Entwicklung der Arbeitsstelle als studentische Mitarbeiterin von 2017 bis 2022 mit ihrer Wissbegier, mit kreativen Projekten und mutig-experimentellem Elan geprägt und sich von Beginn an auch auf die Spuren Gerhard Wolfs gesetzt. Gerade das zeichnet sie aus als Forscherin, die ein wirkliches Verständnis für kooperative Zusammenhänge hat. Ich erinnere mich, wie wir im September 2016 im Souterrain am Amalienpark die ersten Bücher der großen Wolf-Bibliothek ansehen und verzeichnen durften. Als wir damals die Titel der Bücherstapel und -reihen inspizierten, empfahl uns Gerhard Wolf die obenauf liegende Autobiographie von Carl Zuckmayer Als wär’s ein Stück von mir, die, wie er sagte, in beeindruckender Weise von den Schriftstellern im Exil erzähle. Von anderen Darstellungen sei er eher enttäuscht gewesen und nannte Lion Feuchtwanger als Beispiel. Nebenbei erwähnte er, Christa und er hätten Marta Feuchtwanger im Jahr 1984 noch besucht, viel öfter allerdings hätten sie sich im Haus Arnold Schönbergs aufgehalten.
An den ersten Kisten der Privatbibliothek Wolf, die dann an die Arbeitsstelle gelangten, erstaunte Emma Ulrich die auffällige Präsenz vor allem der Lyrik des deutschsprachigen Exils. Inspiriert vom Material und motiviert von Gerhard Wolfs Fingerzeigen „man müsste mal“, verfasste sie 2018 ihre Bachelorarbeit über die Geschichte eines aus unterschiedlichen Gründen nicht realisierten Anthologie-Vorhabens von Gerhard Wolf, das sich mit im Exil entstandener Lyrik beschäftigen sollte. Wäre es wie geplant Anfang der 1970er Jahre erschienen, hätte es, über ideologische Zuordnungen von Literatur hinweg, breit und vielfältig Aufschluss geben können über die Themen und Motive des deutschsprachigen literarischen Exils der Jahre 1933 bis 1945.
Wie jetzt bei der Masterarbeit bildeten schon damals lange Interviews mit Gerhard Wolf und dessen überbordende Hinweise auf in der Wolf-Bibliothek versammelte Aufsätze, Bücher, Schallplatten usw. den Ausgangspunkt für Ulrichs ambitionierte eigenständige Recherche in unterschiedlichen Archiven der Akademie der Künste. Ihr außerordentliches Engagement wurde mit der Nominierung der Arbeit für den renommierten Humboldt-Preis belohnt.
Weder Wolfs Wirken als Herausgeber und Kanonisierer noch die Autor:innen des Exils ließen Ulrich in ihrem darauffolgenden Masterstudium der Neueren deutschen Literatur, ebenfalls an der HU, los: Für ihre Abschlussarbeit folgte sie wieder einem Impuls Gerhard Wolfs zur Rekonstruktion eines unbekannten Kapitels der deutschen Literaturgeschichte. Denn Ulrich teilt mit ihm das Interesse an Randfiguren, an den Unangepassten und Kantigen unter den Dichter:innen.
Gerhard Wolf war es, der nach dem frühen Tod des als Jude und Kommunist sowohl von den Nationalsozialist:innen als auch unter dem Stalinismus und von antijüdischen Affekten seiner eigenen Genoss:innen verfolgten Louis Fürnberg mit einer Werkausgabe die Voraussetzungen für dessen angemessenere Kanonisierung schuf. Gemeinsam mit Lotte Fürnberg arbeitete er daran von 1962 bis 1973. 1977 gab er dann den Briefwechsel zwischen Fürnberg und Arnold Zweig heraus, 2009 erneut eine Gedichtauswahl Fürnbergs mit einem umfangreichen Nachwort, das er in seinen letzten großen Essayband Herzenssache. Memorial – Unvergessliche Begegnungen (2020) aufnahm.
Fürnberg war in Prag gebürtig und lebte ab 1941 in Palästina im Exil. Zurück nach Kriegsende wanderte er im Zuge der Slansky-Prozesse nicht wirklich aus freien Stücken aus seinem Heimatland Tschechoslowakei 1954 in die frühe DDR ein. Bis zu seinem frühen Herztod blieb er immer gefährdet, in Prag doch noch vor Gericht gestellt zu werden und wie sein Freund und Genosse hingerichtet zu werden. – Das alles führte dazu, dass Fürnberg nicht in Schubladen passte und so durch das „Aufmerksamkeitssieb“ rutschte, das Labels wie ‚Nachkriegsliteratur‘, ‚DDR-Literatur‘, ‚Prager-deutsche Literatur‘, ‚deutsch-jüdische Literatur‘ usw. bilden. Als Verfasser des Lieds „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ wurde Fürnberg denunziert und marginalisiert. Seither ist Fürnberg schon jahrzehntelang kaum noch ein Forschungsgegenstand; auch zu den Bedingungen des Exils meinte man, sei das Wichtige bereits gesagt. In der Studie unserer Preisträgerin erfahren wir nun aber, wie gravierend die frühe DDR gerade von Remigrant:innen geprägt worden ist und wie vielfältig Fürnbergs Schaffen war.
Ulrich schreitet keine ausgetretenen Pfade ab, sondern erkundet. Wiederum bilden Gespräche mit dem auskunftsfreudigen Gerhard Wolf Ausgangspunkt und Fundament ihrer Arbeit. Für diese scheut Ulrich keine Mühen, gräbt im Louis Fürnberg-Archiv der Akademie der Künste und arbeitet sich durch ein breites und disziplinär heterogenes Feld an Publikationen. Sie wählt gerade die weitgehend unbekannte, Fragment gebliebene „Krankengeschichte“ (die 1955 entstand) und zwar deshalb, weil sie „die Heftigkeit der Ablehnung des Schwachen, des Halben und des Kranken“ irritiert.
In ihrer textnahen Lektüre weist sie die autofiktionale Grundierung des Textes nach und wirft ein Licht auf die existenzbedrohende Situation der in die junge DDR eingewanderten jüdischen Kommunist:innen, zu denen auch Anna Seghers und Hans Mayer gehörten. Sie stellt intertextuelle Bezüge innerhalb von Fürnbergs Werk dar, aber auch zu Thomas Manns Zauberberg als Modell des literarischen Umgangs mit Krankheit. Damit zeigt sie auch die Auseinandersetzung um das kulturelle, hier bürgerliche Erbe in der DDR der 1950er Jahre. Immer wieder schlägt Ulrich weite Bögen, beweist ein sowohl mediengeschichtliches als auch gattungstheoretisches Bewusstsein.
Worum es ihr geht, das sind die kulturellen, biographischen, sozialen, politischen und literarischen Konstellationen, in denen Literatur entsteht und sich bewegt. Ihr Blick fällt deshalb zurück auf die literarischen Debatten und Beziehungen im Exil und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in die das Ehepaar Fürnberg involviert war, und die nicht nur Fürnbergs Poetik beeinflusst haben.
Ulrich betrachtet folgerichtig auch das Nachwirken Fürnbergs, unter anderem seine Mitarbeit an der ab 1955 erscheinenden Fachzeitschrift Weimarer Beiträge. Von ihm ging die Initiative zur Öffnung nicht nur für slawische Literaturen aus, sondern auch für den Einbezug tschechoslowakischer Literaturwissenschaftler:innen. Übrigens war es auch Fürnberg, der die junge Christa Wolf, damals Funktionärin des Schriftstellerverbands, ermutigte, den Schriftstellerberuf zu ergreifen.
Emma Ulrich ist heute Souffleuse am Hans Otto Theater in Potsdam und lernt das Stadttheatersystem von innen kennen. Nebenbei bewegt sie sich in ihrer eigenen schriftstellerischen Praxis auch in Konstellationen, sie denkt und schreibt kooperativ: als Teil des Berliner Schreibduos ulrichsundgroschen für angewandte Literatur, als Teil von Peterbarbara, einem Schreibduo für petroweibliches Schreiben in Bushaltestellen in Berlin und Potsdam sowie als Mitglied von Ausfahrt 4, einem künstlerischen Verein für Musik, Theater und Blödsinn außerhalb der Stadt, der sich gerade in Gründung befindet.
Dass in diesen Tagen die Arbeitszimmer beider Wolfs mit „6.000 Büchern“ aus der Wohnung des im Januar verstorbenen Gerhard Wolf in die Räume der Arbeitsstelle ziehen, ist ein ebenso trauriger wie hoffnungsvoller Zufall. Verbindet sich doch mit dem Aufstellen der Bibliothek in den Räumen des Instituts für deutsche Literatur – hier gleich um die Ecke – und mit dem Christa und Gerhard Wolf-Förderpreis die Zuversicht, dass sich weiterhin Studierende für das Werk und Wirken der Wolfs begeistern werden. Hier finden sie einen Ort, der ihnen ermöglicht, selbst am Material zu arbeiten, sich irritieren zu lassen und eigene Forschungsfragen zu entwickeln, wie es die exzellente Masterarbeit von Emma Ulrich vorführt.
In Zeiten, in denen wir überlegen müssen, wie wir mit studentischen Arbeiten umgehen, die mithilfe von avancierter Künstlicher Intelligenz wie ChatGPT entstanden sind, können wir die Eigenständigkeit und Originalität von Ulrichs Masterarbeit, die auf eine – tatsächlich – jahrelange Auseinandersetzung mit dem Wirken Gerhard Wolfs zurückgeht, gar nicht hoch genug wertschätzen und loben. Ich gratuliere dir, liebe Emma, zu diesem sehr verdienten Preis!