2025 Zweite Förderperiode
Bis zum 1. Oktober 2024 gingen die Bewerbungen zur zweiten Runde ein.
Die festliche Preisverleihung für die zweite Förderperiode an Alina Mohaupt und Pauline Schubert erfolgte am 30. April 2025 um 17 Uhr im Foyer vor der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf.
Pauline Schubert schrieb an der Universität Leipzig ihre Staatsexamensarbeit "Vom Sehendwerden und Sichtbarmachen. Das Primat der Visualität in Christa Wolfs 'Nachdenken über Christa T.' und 'Kassandra'" und Alina Mohaupt schrieb ihre BA-Arbeit an der HU: „Lesen und Schreiben. Lektürespuren zu Kassandra (1983) in Christa Wolfs Griechenland/ Antike-Sammlung“.
Laudatio auf die Preisträgerinnen
des zweiten Förderpreises
Birgit Dahlke
30. April 2025
Laudatio auf Pauline Schubert, mit Alina Mohaupt Trägerin des Christa und Gerhard Wolf-Förderpreises 2025
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Pauline Schubert,
es ist mir eine Freude, Ihnen eine der beiden Preisträgerinnen der zweiten Ausschreibungsrunde des Christa und Gerhard Wolf-Förderpreises vorstellen zu dürfen. Im Namen der Christa Wolf-Gesellschaft als der vergebenden Institution gratuliere ich Ihnen, liebe Pauline Schubert, begeistert.
Pauline Schubert, 1997 in Dresden geboren, studierte an der Universität Leipzig und der Technischen Universität Dresden im Studiengang Lehramt an Gymnasien für die Fächer Deutsch und Philosophie und schloss ihr Studium 2024, gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volks, mit dem ersten Staatsexamen in Leipzig ab. Aktuell bewirbt sie sich um ein Promotionsstipendium für eine Doktorarbeit über Sarah Kirsch.
Frau Schubert arbeitet als Nachhilfelehrerin für Kinder mit Migrationsgeschichte. Schon während ihres Studiums war sie nicht nur als studentische Hilfskraft tätig, sondern arbeitete durchgängig in verschiedenen Jobs auch außerhalb der Universität. Die Bewerbungsphase um ein Doktorstipendium finanziert sie z.B. u.a. als Botin für eine Apotheke. Angesichts eines so dicht gefüllten Alltags beeindruckt mich umso mehr, dass sie zugleich Mitglied in studentischen Hochschulgruppen wie dem „Jungen Forum Literaturwissenschaft“ war, Teil eines Chemnitzer Lesekreises für die Geschichte und Theorie linker Bewegungen ist und ehrenamtlich über den Malteser Integrationsdienst ein Café für Frauen mit Migrationsgeschichte betreut. Demnächst erscheint ihre erste wissenschaftliche Publikation, ein Aufsatz zu Christa Wolfs Störfall. Das ist, das sei angemerkt, in dieser Frühphase nach dem Studium selten.
Ihre im Mai 2024 an der Universität Leipzig eingereichte Examensarbeit trägt den Titel „Vom Sehendwerden und Sichtbarmachen. Das Primat der Visualität in Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. und Kassandra“.
Zwei gut erforschte Kanontexte werden vom Motiv des Sehens, der Augen, des Blick, der Perspektive aus erkundet. So wenig die Auseinandersetzung mit Kassandra als Figur einer Sehenden überrascht, so inspirierend ist es, Kassandra mit der 15 Jahre früher erzählten Christa T., dem „Augentier“, zusammen zu denken. - Um es vorwegzunehmen: mit dieser Examensarbeit löst die Preisträgerin den Zweck unseres Preises überzeugend ein, der laut Satzung darin besteht, zeitgemäße Auseinandersetzungen mit dem umfangreichen Werk Christa Wolfs anzuregen und anzuerkennen.
Die Jury beeindruckte nicht nur die originelle Themenwahl sondern vor allem der methodische Zugriff auf den Gegenstand, die philologische Gründlichkeit bis in die klug angelegten sachkundigen Fußnoten hinein. Eine klar strukturierte Studie führt in logisch stringenter Argumentation, souveräner Rhetorik und gutem Stil zu überraschenden Einsichten. Die Haltung, aus der heraus sich die Analyse Schritt um Schritt entwickelt, ist eine der Offenheit, einer wissenschaftlichen Neugier. Das hört sich einfacher an als es ist.
Die Arbeit weist zwei Teile auf: Sehen und Erinnern und Sehen und Erkennen. Im Fazit wird dann Sehen und Erzählen verschränkt. Erinnerung kann eine bestimmte „Färbung“ annehmen - sie wird also in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich, möglicherweise gar gegensätzlich, wahrgenommen. Pauline Schubert versteht Wolfs Poetik des Erinnerns als eine von visuellen Verfahren durchzogene. In einem anderen als dem hier untersuchten Kontext, nämlich in Kindheitsmuster (1976), heißt es bei Christa Wolf:
„Bestimmte Erinnerungen meiden. [...] Bestimmte Fragen unter Altersgenossen nicht stellen. Weil es nämlich unerträglich ist, bei dem Wort 'Auschwitz' das kleine Wort 'ich' mitdenken zu müssen: 'Ich' im Konjunktiv Imperfekt: Ich hätte. Ich könnte. Ich würde. Getan haben. Gehorcht haben.“ (KM, 337). Davon abgeleitet wird in dem Prosatext „die Pflicht, an die eigene Kindheit Hand anzulegen. [...] Dabei rückt wie von selbst im Laufe der Jahre jenes Kinderland in den Schatten der Öfen von Auschwitz“. (KM, 363)
Das erinnerte innere Bild einer glücklichen Kindheit ist nicht zu retten. Die historisch informierte Erzählerin der 1970er Jahre hat eine Perspektive auf das biografisch Erfahrene erworben, welche ihre Wahrnehmung grundlegend verändert, das „Kinderland“ verschattet. Eben weil das so ist, richtet die 1929 geborene Christa Wolf ihre literarische und autobiografische Aufmerksamkeit gerade auf diese Lebensphase. Sehen und Erkennen in aufklärerischer Tradition, hier beweist der methodische Zugriff unserer Preisträgerin seine Geltung. Sie merken, liebe Pauline Schubert, ich lasse mich von Ihrem Zugang inspirieren, ich erprobe dessen Produktivität. An der Christa T.-Figur entdecken Sie die „Sucht zu sehen“, an Wolfs Kassandra die „Gier nach Erkenntnis“. Hinzusehen ist in beiden Prosatexten weniger Lust als Pflicht. Wo im traditionellen bürgerlichen Bildungsroman vieler männlicher Autoren das erkennende Sehen gefeiert wird, als Bestandteil individuell erworbener Selbstbildung, ist es in den von Ihnen analysierten nach 1945 entstandenen Texten eher Ergebnis einer schmerzhaften Selbstverpflichtung. Welchen Status Semantiken des Sehens eben nicht nur als Erkennen, sondern auch als sinnliche Praxis in der Poetik Christa Wolfs innehaben, zeigen Sie anhand mehrerer Essays und Reden auf. „Nachdenken über den blinden Fleck“, unter diesen Titel hatte Christa Wolf 2007 ihre Rede auf dem Kongress der Internationalen psychoanalytischen Gesellschaft gestellt, der damals zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin tagte. Mit literarischen Mitteln arbeite sie gegen Wahrnehmungsschwächen, oft Abwehr gegenüber bestimmten Realitätssegmenten an, auch gegen die eigenen. Sie zitiert den berühmten Schlussmonolog des alten erblindeten (!) Faust aus Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil: „Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“. Die zeitweise peinlich verkürzte Deutung dieser Passage in DDR-Schulen vergisst sie nicht zu erwähnen. Blindheit und Selbsttäuschung in mehrfacher Verschachtelung und im Namen des Fortschritts. Der blinde Fleck wandert mit. Sie zitiert Büchner, der seinen Prinzen Leonce ausrufen lasse: „O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!“ Auf die Zeugnisse gerade der Schriftsteller sei die Nachwelt angewiesen, die sich an den deutschen Zuständen wundgerieben hätten. „Was ihr scharfer, oft überscharfer Blick gesehen hat, hat ihr Jahrhundert überdauert.“ In der selben Rede kommt Wolf auch auf das jahrhundertelange „Unsichtbarmachen“ der Frau in der öffentlichen Wahrnehmung zu sprechen.
Dass die Hauptfiguren der Selbstermächtigung in der Prosa Christa Wolfs oft weiblich sind, ist alles andere als nebensächlich. Nachdenken über Christa T. stand immerhin am Anfang einer ganzen Welle von Texten, für die im Westen das Etikett feministisch und im Osten das Wort Emanzipation gewählt wurde. Vor einem Monat war ich an die Universität Kopenhagen eingeladen, um eine Vorlesung zur Frage nach dem Feminismus in der Literatur der DDR zu halten. Das Thema ist heute überraschend aktuell, nicht zuletzt angesichts weltweiter Rückschritte in Fragen der Geschlechter-Gerechtigkeit.
Als Frau ich zu sagen, das meinte im Kontext der DDR-Literatur mehr als einen individuellen Entwicklungsschritt. Es meinte zugleich: zum Subjekt von Geschichte zu werden. Vor kurzem kam Katrin Wolf beim Besuch von 20 Mainzer Besucher:innen an der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Wolf auf den „Frauenreport 1990“ zu sprechen. Die damalige nüchterne Bestandsaufnahme am Ende der DDR liest sich heute beinahe als utopisch. Das ist bitter und es ist ein Weckruf: Nichts davon ist historisch überholt, nichts ist gestrig, nichts ist „eingeholt“.
Wolfs Plädoyer, genau hinzusehen, gerade da, wo es weh tut, erreicht uns in, wie heißt es so schön, „herausfordernden“ Zeiten.
Liebe Pauline Schubert, ich freue mich, Ihnen (und Alina Mohaupt) den Christa und Gerhard Wolf-Förderpreis für studentische Abschlussarbeiten zusprechen zu können. Lassen Sie uns Ihren Erfolg feiern. Für Ihr Promotionsstipendium drücke ich die Daumen, denn ich hoffe natürlich, dass Sie dann während Ihrer Forschung zu Sarah Kirsch auch hier bei uns in der Privatbibliothek Wolf auf Erkundungsreise gehen. Und ich gebe zu, dass ich eine so wache, kluge und couragierte, historisch denkende und mit Kunstsinn ausgestattete Persönlichkeit wie Sie nur zu gern auch an einem Gymnasium wüsste.
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